Abschied auf Zeit

Abschied auf Zeit, die uns noch bleibt – für immer dein Sohn

 

Ich weiß, du bist da, kommt es hart auf hart / Du hörst mich, auch wenn ich gar nichts sag' / Wenn wir uns wiederseh'n / Werden wir uns blind versteh'n / Und wir feiern auch im Regen / Wir tanzen auf das Leben / Wenn wir uns wiederseh'n Ist es, als wäre nichts gescheh'n / Und wir singen unsre Lieder Immer lauter, immer wieder                                                       (Malte Kelly)

Wenn die Zeit gekommen ist, zu gehen, bin ich an deiner Seite. Du wirst nicht alleine sein und du musst keine Angst haben.

 

Das so dringend notwendige Flucht- Ticket hatte seinen stolzen Preis, den man gerne bereit war zu zahlen.  Die Erfahrung der letzen Jahre bewies, dass sich die Investition im doppelten Sinne lohnen würde. Der Grund lag auf der rauen rissigen Hand und war im Spiegel betrachtet mehr als die offensichtliche Frühjahrsmüdigkeit.  So sah also totale Erschöpfung im Wandel der Zeit aus.

 

Dringend notwendige Selbstheilung  war das verordnete Ziel. Leben auf der Überholspur gehörte längst der Vergangenheit an. Dem Tempo des Lebens galt es Schritt zu halten. Der eigene Antriebsmotor stotterte schon seit Wochen halb verreckend. Der Gedanke im Kopf pochte massiv fordernd auf die Schläfen: „So kann es nicht weiter gehen!“

 

Nach diesem unendlich lang auszuhaltenden tristen Winter 22 / 23 war nun der Tag der Zeitenwende gekommen, um den Rückhalt des „mühsam Ersparten“ in ein Investment zu stecken, was genau wusste, woran es in letzter Zeit mangelte: Selbstliebe durch Zeit für sich selbst!

 

Körper, Geist und Seele lagen am Boden.  Brauchte es noch mehr  „Zeichen der Zeit“? Das „Ich“ verlangte die Aufmerksamkeit, die der Mensch braucht, um sich nicht als Maschine wieder zu finden, sondern als Humanoit, der die Talsohle  innerer Erschöpfung nur noch in einem entschleunigten Tempo durchschreiten kann, denn der Bedarf nach regenerativer Energie war gewaltig.

 

Jedes Jahr um diese Zeit wurde der gefühlte „burnout“ - Zustand schlimmer. Kopfschmerzen wurden chronisch, Denkfalten noch tiefer. Nun waren auch noch neben schmerzenden Augen die Rückenschmerzen da, die von der nicht heilen wollenden Entzündung am Knie ablenken sollten und die einen Besuch im Fitnessstudio zu einem Ort  der gesunden Sehnsucht mutieren ließ. Der körperliche Verfall hatte gewonnen  -  auf schwache Gegenwehr folgte die Kapitulation und eine Stimmung am Boden liegender Resignation.

 

Antidepressiva lagen als Rezept verschrieben auf dem Tisch, doch drohte durch regelmäßige Einnahme Abhängigkeit, die sich zu einer möglichen latenten Wein(en) sucht ins Gegenteil verkehren könnte, was schrecklich wäre. War ein Glas Vino Veritas am Tag wirklich schon zu viel, der Anfang vom Ende, oder einfach nur gesellschaftsakzeptiert weiterhin en vogue?

Zusammengefasst: Der seit Wochen auf Rest- Restenergie laufende Rädchen - Motor alarmierte im vielleicht letzten Moment und somit noch gerade rechtzeitig, dass das überforderte Herz kurz vor dem Infarkt stand. Stillstand als Ausweg?

 

Die Maxime „immer Alles geben“ zu wollen, wurde altersgemäß eingeholt durch die tatsächliche Einsicht, dass Einklang ein hohes Gut ist, was unbedingt hergestellt werden muss, um die Qualität zu sichern, mit der man allen (auch den eigenen) Anforderungen wie gewohnt gerecht werden kann, auch wenn der Verschleiß sich auf allen Ebenen immer stärker bemerkbar macht.

 

Das „Ich“ wird zu einer einzigen Baustelle. Je älter man wird, umso mehr ist man damit beschäftigt, zu reparieren und zu kaschieren, um zunächst noch mithalten zu können. Doch das Alter ist nun mal eine rieselnde Sanduhr und Lebenszeit wird einem nun mit Mitte 50 bewusst diktiert immer kostbarer.

 

Beruhigende Telefonate mit der Familie werden immer beunruhigender, da der Ton jetzt schon geprägt ist von Angst und Sorge. Wie soll dann erst das Morgen werden?

 

Mutters schmerzstillendes Arsenal an Pillen, Cremes, Bandagen und Tropfen ist schon bis zum Anschlag erweitert und auch Schlaftabletten kapitulieren vor ihrer wachsenden Unruhe, die sie nicht schlafen lässt.

 

Die unmittelbar bevorstehende OP der 82 jährigen ehemaligen Powerfrau gerät immer stärker in den Fokus, da nicht sicher ist, wie es mit ihr danach weiter gehen soll: stehend angewiesen auf den verhassten Rollator, oder für immer sitzend im Rollstuhl?  Wird meine Mutter ein Fall für den Pfleger oder wird sie zu einem Pflegefall? Das ist kein Spiel des Lebens, sondern ein realistisch zu bedenkendes Horrorszenario!

 

Da hilft kein Beten, dass schon alles gut werden wird. Die Empfehlung der Ärzte verlangt keinen weiteren Aufschub. Eine Entscheidung muss her. Die Einwilligung will mit unterschrieben werden.

 

Während man auf der einen Seite versucht, die eigene Lebensplanung voran zu treiben, beginnt man parallel Vorkehrungen zu treffen, wie die Zeit des langsam näher kommenden Abschieds von dem so prägenden Muttertier sich immer stärker in das Denken einschleicht, realisierend, dass man bald die Verantwortung übernehmen muss, sich mit Dingen zu beschäftigen, die so lange „von den Eltern“ geregelt wurden. Nun ist sie es, die eigene Mutter, die massiv auf Nachlassregelung drängt, weil die Zeit der Verdrängung abgelaufen ist.

Gerade erst hatte man vor genau zwei Jahren den plötzlich aus dem Leben gerissenen Vater zu Grabe getragen, gilt es nun, sich mit Themen wie Grundsteuer, Erbschaftssteuer, Pflegeversicherung, Nachlassverwaltung, Pflege vollmacht und und und  zu beschäftigen, die on top zu bewältigen sind, wo man doch eigentlich damit beschäftigt ist, das eigene Vollzeit- Leben irgendwie zu verwalten, damit man den Überblick behält in der eigenen Absicherungsplanung fürs „Alter“.   

 

Lebenswichtige Entscheidungen können nur dann entschlossen gefasst werden, wenn man Kraft hat, das zu verkraften, was im Raum steht: der geplante Abschied (auf Zeit)!

 

Es gab also genug Argumente, bevor es ans Eingemachte geht, alles Aufgesparte zusammen zu kratzen, um sich nur ein bisschen mehr „Zeit zu Leben“ zu verschaffen. Genauer gesagt sieben Tage mussten reichen, um einen Stopp zu erzwingen, damit genug Vitamin D angereichert wird, um eine Einstellung zu erreichen, die zur Bewältigung des Sorgenbergs so nötig war: Positivität!  

In der am weitest entferntesten Ferne angekommen, war endlich Zeit für die verdiente Unterbrechung einer Entwicklung, die scheinbar alle Restenergien gefordert hatte.

 

Reif für die Insel

 

Das war der treffendste Ausdruck für den Ausnahme- Zustand, der mich motiviert hatte, einen Luxustrip dorthin zu buchen, wo man wirklich nichts hatte, außer einer Insel mit zwei Palmen und  einer bequemen Hängematte. Hier verwaltete ein einheimischer alter Ziegenbock den kostbaren Friedensfleck. Mal schenkte er mir als Gast, so schien es, ein paar kurzweilig widerkauende Aufmerksamkeitsblicke. Ab und zu meckerte er zufrieden vor sich hin, aber im Grunde hatte er alles was er brauchte.

 

Der weiße Kieselsand unter den nackten Füßen kitzelte als herrliches wärmendes Peeling. Ein 360 Grad Panoramablick auf das blaue weite Gezeitenmeer verwöhnte als feuchtes Balsam die ausgetrockneten Augen.

 

Das kühle Nass plätscherte sanft kühlend in regelmäßigen Abständen, leicht um die Zehen herum, nur um verloren geglaubten Lebensgeist zurück in erste Wallung zu bringen. Zum Sonnenuntergang am Horizont kehrte leise angenehme Ruhe ein. Endlich schaukelnder Wiegesschlaf. Endlich strahlender Sunrise voller Optimismus. Selbst die Ziege schien zu lächeln.  

Beste Voraussetzungen, um die familiären Ereignisse zu sortieren, das Für und Wider so abzuwägen, dass vernünftige Logik zur Lösung aller Sorgen führen würde. Die Ich- Gedanken relativierten sich schnell und schweiften ab, hin zu ihr… der größten Sorge-  der eigenen Mutter.

 

Wie nur kann man das Lebenswerk einer Mutter auch nur annähernd würdigen, die einen mit leider zu eiserner Disziplin so erzogen hatte mit dem übergeordneten Ziel selbst eine starke Persönlichkeit zu werden, die sehr gut zwischen gut und böse unterschieden kann, um in der Ellenbogen - Welt der Erwachsenen zu bestehen und seinen Platz zu finden.  

 

Der Vorsatz war gefasst, dem Impuls folgend das Handy zur sofortigen Kontaktaufnahme zu ihr diesmal besser zu nutzen. Die Nummer war gewählt und die Leitung problemlos hergestellt.  Die zur Einleitung behutsam gewählte Frage, mich nach ihrem Befinden zu erkunden, wurde von ihr direkt abgewürgt, da es sie nur kritisch interessierte, wie die fremde Küche schmeckte.

Sie bekam natürlich die Antwort, die sie hören wollte. Aber dann sagte ich ihr schonungslos ohne Umweg all das, was ich ihr eigentlich schon immer sagen wollte:

 

Dass sie meine Mutter ist, die ich liebe und die Zeit, die uns noch bleibt, nutzen werde, um ihr und mir für die Ewigkeit schöne Momente des Zusammenseins bereiten will, sobald ich genug Kraft getankt habe. Die ehrlichen Worte gerieten ins Stocken. War es das aufrichtige Dankeschön, was ich mir vorgenommen hatte herzerwärmend an sie zu senden?

 

Es wurde das Dankeschön, was auch die dunkle verletzende Phase vieler verlorener distanzierter Jahre ansprach, als es um Loslösung und Identitätssuche ging. Fast 6 Jahre der gemeinsamen Biographie fehlten  -  und waren im Nachhinein ein großer Verlust, denn das Mutter- Sohn Band war nach dem erlösenden zu späten Verzeihen danach nie wieder so stark, um sich wirklich nah sein zu wollen.  Doch jetzt, im Rückblick betrachtet, war es eben doch nur eine kurze Phase, der zum Glück lange Jahre der Gesundung folgten.

 

Sie verstand mein Anliegen sofort und half mir mit einem „Alles ist gut“ meine holpernde Dankesrede zu beenden, um wieder in ihrem Hier und Jetzt Leben anzudocken. Mit gebrochen leiser Stimme teilte sie mir ihre Entscheidung mit, dass der ungünstige Termin für die OP nun feststehe und sie keine Angst habe, den Weg auch alleine zu gehen, nur um mir weniger Umstände zu bereiten.

 

D a war es wieder. Das verdammte schlechte Gewissen. Wäre sie doch nur jetzt hier mit mir auf dieser schönen Insel und könnte sich ebenfalls in der Hängematte schaukelnd ein paar schöne leichte Gedanken machen, nur für ein paar Momente noch das Leben so genießen wie sie es immer verdient hatte.

 

Doch sie wollte lieber auf das von uns Kindern längst verlassene Großfamilien- Haus der Nachkriegs- Geschichte aufpassen, damit kein Einbrecher auf die Idee kommen könnte, sie sei im Urlaub, das Haus nun komplett verlassen und der Weg endlich frei, ihr den in die Jahre gekommenen Fernseher fürs Museum zu rauben. ;)  So war sie, die stolze Löwin. Das Telefonat wurde wegen der hohen Kosten dann doch zu schnell wie immer beendet. Und doch war da diese befreiende Erleichterung, dass es richtig war, ihre Stimme zu hören.

 

Liebe Mutti, in Gedanken bin ich immer bei dir und wenn ich zu dir kommen soll, um dir ganz nah zu sein und um deine Hand zu halten und zu streicheln, wirst du es mir sagen. Und wenn du es mir nicht sagen wirst, dann werde ich aus Respekt vor dir auch diesem Wunsch entsprechen. Jeder Tag ist ein guter Tag  - möge es noch viele dieser guten Tage geben.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0